. . . jeder Tag ist wie ein neues Leben
Krebs: Anne Braun weiß, daß sie sterben wird. Womöglich schon bald. Wie es ihr trotzdem gelingt, immer wieder Mut zu schöpfen.
Von Geneviève Wood
Die Ärzte sagen, der Krebs kommt wieder. Spätestens in fünf Jahren. Anne Braun (48) sagt, sie macht es trotzdem wie die meisten Menschen, wie die gesunden: "Ich plane für die Zukunft." Für eine Zukunft mit und trotz des Rippenfellkrebses. Anne Braun lebt mit der tödlichen Krankheit. "Für mich ist der Tod nur näher als für Gesunde." Und das an jedem Tag.
Sie wird den Kampf gegen die Krankheit verlieren. Sie hat keine Chance, das Rentenalter zu erreichen. Sie wird nicht gemeinsam alt werden mit ihrem Mann Jürgen (55). Dem Mann, der sie erst fünfeinhalb Monate kannte, als sie im Oktober 2003 von ihrer Krankheit erfuhr. Als sie im ersten Moment das Gefühl hatte, das Leben ist zu Ende. Es ist ja auch so, daß sie den Kampf gegen die Krankheit verlieren wird. Die Frage ist bloß, wann. In ein paar Monaten? Nächstes Jahr? Übernächstes? Oder in 15 Jahren? Dann "wäre ich ein medizinischer Ausreißer", sagt sie. Die Statistik ist gefühllos. Die Zahlen sind gegen Anne Braun aus Wellingsbüttel. Die Statistik sagt auch: Pleuramesotheliom (Rippenfellkrebs) tritt nur nach Kontakt mit Asbest auf. Den hatte Anne Braun, als sie acht Jahre alt war. Damals in Stade. Damals, als sie diese Asbestflocken nahm und heimlich versuchte, sie im Garten anzuzünden. Wie faszinierend das war. Daß das Zeug nicht brannte. Und wie spannend das war, weil doch ihre Eltern das Spiel mit dem Feuer verboten hatten. Die Eltern, die das Asbest ins Haus geholt hatten. In aller Unschuld natürlich. "Damals", Anne sagt wieder das verfluchte Wort, "damals wußte ja niemand, wie gefährlich Asbest ist." Der Vater arbeitete im Kraftwerk Schilling an der Unterelbe bei Stade. Irgendwann wurde die Asbestisolierung aus den Kesselhäusern entfernt und den Mitarbeitern überlassen. "Mein Vater war froh, diesen Werkstoff als feuerfeste Isolierung im Haus verwenden zu können." Heute machen sich die Eltern Vorwürfe. "Aber sie können nichts dafür", sagt die kranke Tochter. Sie ist froh, daß ihre Schwester Birgit (49) verschont geblieben ist. Warum es sie und nicht Birgit erwischt hat? Diese Frage hat sich Anne nie gestellt. Führt ja auch zu nichts. "Ich habe zum Depremiertsein keine Zeit und keine Lust. Ich will nicht den Kopf hängen lassen."
Der Weg über das Hilfswerk bedeutet auch, daß das Geld kein Schuldeingeständnis ist. Und mit dem Schicksal hat sie zum letzten Mal gehadert, als sie sich beim Langlauf den Fuß gebrochen hatte. Die starke Anne. Sie sagt, keiner könne was dafür. Trotzdem hat sie an das Energieunternehmen E.ON geschrieben, dem Nachfolger des damaligen Kraftwerkbetreibers. Frau Braun ging es um Verantwortung, auch um Geld. E.ON. hat gezahlt. Über das Hilfswerk Stolzenbach hat das Unternehmen 2000 Euro überweisen lassen. 2000 Euro reichen nicht für die häusliche Pflege, für Verbandsmaterial, für Fahrtkosten. Das alles zusammen kostet 3000 Euro im Jahr. Der Weg über das Hilfswerk bedeutet auch, daß das Geld kein Schuldeingeständnis ist. Es sei auch kein Schuldiger, den sie suche, sagt Frau Braun. Sie ist auf der Suche nach Anstand. Wegen des hochgiftigen Asbeststaubs muß sie ohne linken Lungenflügel, ohne Zwerchfell, ohne Rippenfell, ohne Herzbeutel leben. Am 18. November 2003 hatten die Ärzte in der Klinik Großhansdorf ihr diese Organe entfernt. Nun lebt Anne Braun mit acht Morphiumtabletten am Tag gegen die Schmerzen und mit einem 20 Zentimeter langen Schlauch im linken Brustraum. Der Schlauch guckt aus der Haut heraus und führt Wundwasser in einen Beutel, den Anne Braun unter dem linken Hosenbein trägt. Der Pflegedienst kommt einmal am Tag, um die Stelle, wo mal ihr linker Lungenflügel war, mit einer Kochsalzlösung zu durchspülen. Das zweite Mal am Tag macht Ehemann Jürgen das. Zu Ärzten muß sie einmal im Quartal - zur Kontrolle. Zur Sicherheit. Früher hatte Frau Braun ein volles Gesicht, einen blonden Pagenkopf. Jetzt ist sie dünn, zerbrechlich. Die Haare sind kurz, weil das praktischer ist. "Manchmal schaffe ich es nicht, den Föhn zu halten." Die Schmerzen. Sie hat gute, und sie hat schlechte Tage. Ein guter Tag ist, wenn das Wetter nicht wechselt. "Bei Tiefdruck habe ich permanent Atemnot." Ein guter Tag ist, wenn Anne Braun keine Schmerzen hat, wenn sie essen und schlafen kann. Wenn sie in ihrem Wintergarten sitzen, die Sonne genießen kann, das Licht, das ihr so wichtig ist. Wenn sie einen Krimi von Henning Mankell liest oder mit dem Bus zwei Stationen ins Einkaufszentrum fahren und mit ihrer Gehhilfe unterwegs sein kann. Wenn sie dann für ihren Mann die Post wegbringt. Ihrem Jürgen, der ihr immer geholfen hat, ein klein wenig zurückgeben. Das tut gut. Heute ist kein guter Tag. An solchen Tagen liegt sie auf dem roten Sofa in der Diele, dem "Komasofa", wie sie sagt. "Ich habe mir Gesundheit ins Gesicht geschmiert." So nennt Frau Braun das, wenn sie sich schminkt. Dezent. "Ich mag es nicht, wenn die Leute mir sagen, wie schlecht ich aussehe." Die Schminke kann den Krebs verbergen, vergessen läßt sie ihn nicht. "Wir haben bis zur Diagnose ein ganz normales Leben geführt", sagt Frau Braun. Sie hat in der DAK-Hauptverwaltung gearbeitet, ihr Jürgen war Unternehmensberater in München. Zusammen haben sie das Wochenende auch mal in Paris verbracht. Was Verliebte eben so machen. Gar nicht in dieses Leben paßte der Krebs, der Gedanke an den Tod. "Jürgen, wir trennen uns", hat sie ihrem Freund gesagt. Damals, wieder dieses Wort, wollte sie ihrem Partner ein Leben mit einer Todkranken nicht zumuten. Aber Jürgen dachte gar nicht daran. "Mein Jürgen sagte: Wir ziehen zusammen und heiraten." Im Standesamt Wandsbek haben sie am 12. November 2003 geheiratet, um acht Uhr, sechs Tage vor der großen OP. Einen Tag später, am 13., kam sie in die Klinik nach Großhansdorf. Jedes Datum nennt Anne Braun genau. "Für uns zählt jeder Tag." Ihre Hochzeit war so etwas wie eine Nottrauung. Sie dachte ja, daß sie in wenigen Tagen sterben würde. Aber Anne Braun lebt. Es war eine Trauung ohne Blumen, ohne Ringe, ohne Geschenke. Danach gab es Essen bei Freundin Doris in Stade. Das alles hat sie wie in Trance erlebt. "Ich war körperlich am Ende, habe die Dinge nur noch geregelt." In den Tagen zwischen Diagnose und OP hat sie aufgeräumt in ihrem Leben.
In Anne sieht Ehemann Jürgen seine Frau, keine Schwerkranke. Sie hat eine Patienten- und eine Generalvollmacht, ihr Testament geschrieben und die Trauerfeier geplant. "Wenn es soweit ist, wünsche ich mir ein Familienfest in einer Gaststätte." Bloß nicht in einer kalten Kapelle auf dem Friedhof. Und ihrem Neffen hat sie viel Geld geschenkt. Der freut sich über sein Auto. Und das freut dann auch Anne Braun. Wenn sie tot ist, kann sie diese Freude schließlich nicht erleben. Wie ihr Jürgen sich in dieser Zeit gefühlt hat, weiß sie gar nicht. "Er hat nie vor mir geweint." In Anne, sagt Ehemann Jürgen heute, sieht er seine Frau und keine Schwerkranke. Er liebt sie. So einfach ist das. Anne Braun lebt. Aus den wenigen Tagen, die sie nach der Operation erwartet hatte, sind Monate, bald Jahre geworden. Sie lebt mit dem Tod. Hat sie Angst vor dem Ende? Sie weiß es nicht und muß überlegen. Sonst überlegt sie nie lange, redet gleich drauflos. "Wenn im Schlaf mein Herz stehenbleibt, halte ich den Tod für etwas Sanftes. Angst habe ich vor dem Zustand, in dem man hilflos ist, an Maschinen angeschlossen ist und Schmerzen hat." Der Tod als das Ende des Lebens, sagt sie, davor hat sie keine Angst. "Er ereilt uns alle, aber der Weg dorthin kann es schwer machen." Bei einem Schwerkranken ist diese Angst tiefer, realistischer. Nicht vor dem Tod, aber vor dem Dahinsiechen. Es sind nur fünf Jahre, die ihr die Ärzte gaben. Vielleicht ein paar mehr oder weniger. Aber diese Jahre sind um so intensiver. Ihre Familie, sagt Anne Braun, ist näher zusammengerückt. "Wir treffen uns häufiger, telefonieren viel." Sie nehmen mehr Anteil am Leben des anderen. Und immer ist ihr Jürgen ihr Halt, ihr Glück. "Ich bin dankbar, daß ich meinem Mann kleine Alltagsarbeiten schon wieder abnehmen kann", sagt sie. Kleine Arbeiten, wie ab und zu bügeln, das Mittagessen kochen. Gemeinsame Zeit ist für Anne und ihren Jürgen keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk. "Ich verbringe meine Tage damit, meinem Mann jeden Tag etwas von seiner Liebe und Fürsorge zurückzugeben." Und Pläne schmieden die beiden trotz allem. Eine Eigentumswohnung, das wär's. Oder eine Reise. Am liebsten nach Griechenland. Der Krebs hat sie nicht getötet. Und durch die Operation hat sie Lebenszeit gewonnen. So sieht Anne Braun das.